Straschek 1963-74 Westberlin
Teil 3
Elf ereignisreiche Jahre in Westberlin hinterließen deutliche Spuren im Leben von Günter Peter Straschek. Er verarbeitet sie in dem Text “Straschek 1963 -74 Westberlin”. Der Titel in der dritten Person verweist auf den selbstreflexiven Charakter des Essays. In seinen Berliner Jahren betätigte sich Straschek als Filmemacher, -historiker, und -theoretiker, als Publizist und politisch Aktiver in der 68er Revolte. Außerdem war er Teil des ersten Jahrgangs von Studierenden an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB). Zu seinen Kommiliton*innen gehörten Personen wie Helke Sander, Harun Farocki, Hartmut Bitomsky, Johannes Beringer oder Holger Meins. Erstmals liegt nun mit dieser Übersetzung sein Text auch auf Niederländisch vor. Sein Essay ermöglicht einen ganz besonderen Zugang zu den filmästhetisch-theoretischen Debatten und praktisch-politischen Auseinandersetzungen einer Generation von Filmemacher*innen, die das Filmschaffen in Deutschland grundlegend erneuern sollten, und die in ihren politischen und formalen Experimenten ihre Vorkämpfer*innen aus den Tagen des Oberhausener Manifests mehr als bieder aussehen ließen. Die während dieser Periode von dem am 23. Juli 1942 in Graz geborenen Straschek gemachten Erfahrungen und verfolgten Interessen fließen in seinem Text für die Filmkritik in verdichteter Form zu einer virtuosen Komposition zusammen. Straschek schuf eine Konstellation aus unterschiedlichsten Textsorten, wie etwa polittheoretischen und filmästhetischen Überlegungen, Anekdoten, tagebuchähnlichen Einträgen, Briefen oder auch eine Fütterungsanweisung für die Katze von Danièle Huillet. Es handelt sich um eine Textmontage, die wohl heute beinahe jede Redaktion einer Filmzeitschrift stark kürzen und formal verändern würde. Der Text verdankt seine Veröffentlichung in dieser Form dem Geist der damaligen Zeit, besonders aber den redaktionellen Leitlinien der Filmkritik, in der er veröffentlicht wurde, und die damals sicherlich die profilierteste Zeitschrift für Film im deutschsprachigen Raum darstellte.
– Julian Volz1
44.
Nach meiner endgültigen DFFBrelegation ging ich für 1968/69 nach Frankfurt am Main um dort das Projekt Schülerfilm zu organisieren. Es basierte auf den hauptsächlich von mir mit Holger M. konkretisierten Überlegungen der Zielgruppenfilmarbeit. Diese wiederum kam in Mode, fand unqualifizierte Nachahmer; gehört seitdem zu den vielen Versuchen sozialistischer Filmarbeit, die nicht wesentlich vorangeführt haben. Wiewohl das Unternehmen nicht abgeschlossen werden konnte, sind viele Teilergebnisse gelungen und wichtig geblieben. Wie ich überhaupt diese Zeit in FaM in angenehmer Erinnerung habe, pardon, es war die letzte Phase von nichtfraktioniertem und kommunikationsbereitem Genossensein. Gruppen von Gymnasiasten erhielten von uns (Holger M. als Verbindungsmann zur DFFB, noch nicht rausgeschmissen) 8mm Gerätschaft mit technischer Unterweisung, und sie sollten einzelne, sie interessierende Themen filmen und in die Schulagitation einbringen. Bis zum Schnitt wurde relativ angetan gearbeitet, dann erlahmte das Interesse (allerdings durch die “Kunst ist Scheisse” Politik einiger MLnaher Gruppen gefördert. Es war die Zeit, wo langjährigen frankfurter Genossen “Theoretiker ins KZ” an die Zimmerwand geschmiert worden war). Das abgedrehte Material, ohne den Gymnasiasten schon bewusst zu sein, war bisweilen grossartig, durchschnittlich sehr gelungen. Mehr noch, das filmemacherische Konzept trug dazu bei, Probleme konkreter betrachten zu müssen: “die Gesellschaft”, das “repressive Elternhaus”, der “Leistungsdruck” waren leicht in Diskussion und auf Flugblatt zu gebrauchen, wie jedoch “abzufilmen” ohne den abstrakten Gehalt zu verlieren? Wir hielten uns zunächst an die Führung der damaligen Schülerbewegung, verliessen diese, weil sie sich mehr um ihre künftige Politkarriere an der Uni besorgte als um die Belange ihrer Mitschüler, wendeten uns der sogenannten Basis zu, den wesentlich weniger Politisierten. Über diese Mängel des Unternehmens waren wir uns im klaren; das Projekt sollte mit Lehrlingen gemacht werden, doch sah ich mich aufgrund meiner Unerfahrenheit dazu nicht in der Lage. Bei einem sich SLB nennenden Lehrerverband versuchte ich a.G. Schülerinteressen durchzukriegen, scheine mir hingegen dort einiges an Aversionen gegenüber linken Lehrern geholt zu haben. Rückschauend gewertet war das Projekt Schülerfilm ein Versuch, dessen Zwischenergebnisse und Erfahrungen durch Fortsetzung erweitert hätten werden müssen. Den Teilnehmern gilt Dank sowie der immerwährenden Bereitschaft von Luy T. und insbesondere Edith Sch. & David H. W. in Freundschaft
45.
Ich sei entsetzlich ich bezogen, meinte eine, sich in der Filmscene herumtummelnde Dekadenzlerin aus Komponistengeschlechte – wiewohl sie selbst es natürlich auch ist, nur eben “weniger gut”. Ich bilde mir ein, nur das, was ich sage, sei richtig, heisst es gleichfalls des öfteren. Indertat unterstelle ich meiner Meinung eine dezidiert subjektive Richtigkeit, erwarte und verlange dasselbe vom Gegenüber, um so in Kommunikation (nicht ausschließlich verbaler freilich) sich Verifikationskriterien anzunähern beziehungsweise Ansichten wie Thesen immerfort überprüfen zu können. Und ich sei arrogant, aggressiv und verletzend, lautet der Standardvorwurf. Aber ich war in meinem Leben noch nie aggressiv jener Klasse gegenüber, von deren objektiver Ausbeutung ich so privilegiert dahinleben kann: ich bin arrogant nur meinesgleichen gegenüber, “besser” arrogant als die unzähligen mittelmässigen (neuerdings linksopportunistischen) Intellektuellen in der mich betrefflichen Branche, ehrlicher auch. Ich bin höflich, stehe bei Gastarbeiterinnen in der U-Bahn auf und nenne dafür Rainer Werner F. ein “mieses Ausbeuterschwein”.
46.
Zum Begriff des “kritischen Kommunius” bei Antonio Labriola (1843-1904) wurde für DM 7.500 “unabhängig” produziert, das heisst, Jean-Marie St. und Johannes B. haben ein paar tausend DM gegeben und Dr. Alexander K. bzw. das Institut für Filmgestaltung in Ulm Rohmaterial sowie die Leihmiete bezahlt; natürlich kein Pfennig vom Kuratorium, nicht zum Mannheimer Festival zugelassen, von keinem Fernsehsender aufgekauft; die Mitarbeiter konnten nicht entlohnt, die Darsteller nur zu einem Essen eingeladen werden. Dazu musste noch der Schmäh von “Mitbestimmung” und so fort aufgeführt werden, damit ich meine Realisationsvorstellungen annähernd verwirklichen habe können. Wie in allen meinen Kurzfilmen ging es auch hier um Frauen und/oder Sozialismus und wie stets wurde er von Frauen und Linken fast empört aufgenommen. Merkwürdig übrigens, wie empfindlich Menschen werden. wenn es um die eigenen Probleme geht: eine Wohngemeinschaft untersagte mir, in ihrem grossen Raum zu drehen, weil ich auf die Frage, für wen der Film sei, für “uns” geantwortet habe (anstatt für Hausfrauen oder Bergarbeiter. Das war damals schwer in Mode, wiewohl ich bezweifle, dass je ein Zielgruppenfilm seine Zielgruppe erreicht, geschweige denn beeinflusst hat). Während der Dreharbeiten kam ich mir plötzlich unsagbar blöde vor, unter solchen Umständen den Regisseur zu mimen. Seitdem habe ich keinen Film mehr gemacht, genauer, ich bin nicht mehr bereit, unter ähnlich “unabhängigen” Konditionen mit von überall her zusammengekratztem Geld zu drehen. Das hängt mit meinem Arbeits- und Filmverständnis zusammen; ein Freund des Studio und Gegner jeglicher Improvisation und Spontaneität, für mich Synonyme von Schlamperei, stehe ich zum künstlich-synthetischen Film des „Es ist also tatsächlich meine Auffassung von gesellschaftlicher Realitäts(neu)herstellung für die Kinoleinwand kostet Geld, mehr als der übliche Bauernfängertrick mit dem Wirklichkeitabfilmen. Und an dieses Geld komme ich natürlich noch nicht ran.
Dennoch waren die Labriolafilmmonate mit dem ausgekosteten Gefühl eines (mit Kollegen) lange am Szenario Herumbasteln fast schön: leicht aufgekratzt und pathetisiert, sich Hoffnungen hingebend, wurde mir zum erstenmal dieses Abenteuerhafte, will sagen Jugendverlängernde als Kino bewusst. In eine Darstellerin verknallte ich mich unsterblich, leistete mir den Luxus einer grossen Liebe, freilich “unglücklichen”.
47.
Mich nie mit Strukturalismus beschäftigt. Keine Zeit: habe überhaupt keine Lust, jeder bürgerlichen Wissenschaftsmode nachzulaufen, noch dazu amateurisch. In 5 Jahren werde ich mich nach dem letzten Bekenntnisstand dieser Methode erkundigen, doch scheine ich mit meinem Desinteresse bis jetzt nicht viel versäumt zu haben.
48.
Dem Labriolafilm folgte die letzte Arbeitsphase am Handbuch wider das Kino. Für die eigentliche Niederschrift, 8 Stunden täglich Schreibmaschine nebst nachfolgendem Korrigieren, zog ich mich in den Wedding zurück. Mit dem Filmemacher Helmut R., in Japan korrespondentisch tätig, behauste ich eine komfortlose 2-Zimmer-Wohnung. Es ging uns materiell dreckig. Ich konnte und durfte nichts anderes machen, wollte ich das HwdK so bald wie möglich abschliessen.
Harun F. unter Mitarbeit von Hartmut B lieh dir für die schwerste Zeit, herzlichen Dank eines Monatsrente von DM 250; auch Johannes B., Hanspeter K und Dr. Klaus K. (weil noch ohne die “richtige Linie”) zeigten sich solidarisch – im Gegensatz zu beispielsweise Prof. Dr. Friedrich K., der sich weigerte, mir DM 500 zu leihen. Ende 1070/Anfang 1971 war ich trotzalledem gezwungen, Dozentenjobs in Braunschwelg und Hamburg zu übernehmen. In der Abstellkammer einer westberliner Gemeinschaftswohnung, in der es von blöden Schauspielertypen wimmelte, konnte Ich das Hwd im Spätsommer endlich abschließen. Zuvor war es im Juli ’71 zu ernsthaften Zusammenbrüchen gekommen.
[Weswegen Ich das Antiflungeschichtsbüchl alleine und nicht im “Kollektiv” geschrieben habe. Zunächst einmal gibt es nicht so viele Filmemacher & Kinobistoriker wie Germanisten, Soziologen etc. Dann hatte ich eine bestimmte Filmvorstellung zu vertreten, meinem politischen Verständnis beigeordnet. Zudem sind die wenigen, die hierzulande von Film etwas verstehen und schreiben können, Hartmut B. in Westberlin, Helmut F. in München oder indirekt David H. W. in Frankfurt am Main, nicht geringer “schwierig” als ich, ordentlich sensibel. Und nicht zuletzt wollte ich das Abenteuer der 1. Veröffentlichung auskosten: das sich einem gewünschten Ergebnis annähern, mehr noch das Feilen an verschiedenen Fassungen und Passagen, jenes Bemühen um eine dem Problem angemessene Sprache. Notwendige Brotjobs verzögerten den Abschluss um mehr als ein Jahr, allerdings hatte ich mich im Zeitaufwand für den Apparat verkalkuliert.
(Hartmut B. hatte gleichfalls an seiner ersten Buchveröffentlichung gearbeitet; beide stellten wir unseren Verlust an Naivität fest, grinsend kamen wie überein, vom Handwerk schon einiges gelernt zu haben. Wie man mit “komplizierter Sprache” über schwache Argumentationsstellen hinwegtrixen kann, welchem Sekundärliteraturzwang man unterliegt, welche Bluffs und Fallen man aufstellen kann, wie eine mehrhundertseitige Studie komponiert sein müsste, dass es zu wenige Satzanfänge gibt und so weiter und so fort)].
49.
Zynismus. Wäre ich Fabrikarbeiter, käme so ein Filmhochschulstudent zu mir in den Betrieb, die Kamera auf das Fliessband gerichtet um meine Ausbeutung auf Zellloid zu bringen, biederte sich dieser Stipendiat in der Kantinenpause uns an, schulterklopfend etwas über die Befreiung des Proletariats mauschelnd, zeigte er diesen Politfilm auf einem Festival und verscheuerte er das Produkt letztlich ans Fernsehen, ich müsste mich sehr zurückhalten...
50.
Während der Weimarer Republik wurde das sich gegenseitige Befetzen zu einer anerkannten Kunstform; bekanntlich erreichte sie in einzeln Fällen, Kraus: Kerr, neurotische Klassikerqualitäten. Die BRD stellt das andere Extrem vor. Personen sind als austauschbare Figuren eines Verbandes unantastbar gemacht worden, Moralität heuchelnd. Was eine lahme, leidenschafts-lose und nicht-aggressive Haltung zu Ansichten und Dingen vorstellt, wird als “sachliche” Auseinandersetzung geschätzt. Freilich bleibt die Absicht, ein Gegenüber nicht zu “verletzen” weniger der Achtung dieser Person sondern dem Unbehagen verpflichtet, Vorteile zu verlieren. Beim TV beispielsweise gibt es überhaupt keine personalisierten Gegnerschaften: zwar mag keiner keinen, doch die Arbeitsmoral verlangt den Verzicht auf “persönliche” Auseinandersetzungen, was wiederum die sachlichen zu verhindern hat. Die Intelligenz, den Witz und die Aggressivität eines Fritz Kortner kann man in solcher Konstellation nur befreiend empfinden. Wie ich überhaupt die strikte Trennung von sachlicher und persönlicher Auseinandersetzung für falsch und undurchführbar halte. Zu einer Sache geboren stets Personen; und geht es um eine Sache, sollen Menschen auch genannt werden.
Ein Beispiel nur: da gibt sich seit Jahren ein Journalist namens Peter B. Sch. als “Spezialist” für lateinamerikanischen Film aus. Tatsächlich spricht derselbige auch heute noch keine drei Worte spanisch oder portugiesisch. Stattdessen hat er jede wesentliche Information von einem tatsächlichen Fachmann, nämlich Franco M., abgeschrieben, überhaupt alles zusammengeklaut, Kollegen geprellt etc. Herausgekommen ist eine verantwortungslose, dafür ins reisserische getragene Information aber den “revolutionären” Film Lateinamerikas. Derweil hat sich nüchternere Distanz durchgesetzt; selbst wenn das lateinamerikanische Kino an Prestige und Aufmerksamkeit verloren hat, es ist deswegen kaum schlechter geworden. Doch die Ausgangslage, jegliche Emanzipationsbestrebung und alles Moderne (oft durchaus im Interesse des nationalen-antiamerikanischen Kapitals) – gar noch in der Filmbranche – als “revolutionär” zu verzeichnen, wird bezeichnend für Ignoranz und Opportunität in der Journalisterei. Unser Peter B. Sch. hat aus der Entmodung “seines” lateinamerikanischen Kinos die Konsequenzen gezogen: er macht jetzt auf deutschen Proletfilm vor ’33. Die gröbsten Sprachprobleme ist er damit wenigstens los.
51.
Unterrichten hat mir nie Spass gemacht, mir nie etwas gegeben. Am wenigsten an einer Staatlichen Hochschule für Bildende Künste, diesen staatlichen Brutstatten der Irrationalität, wo Lehrer und Schüler sich an verschmockten Ideen zu übertreffen versuchen. An der SHfbK Hamburg war ich für 4 Monate Vertreter von Werner N. als Leiter der Filmklasse; ich musste sogar die Farce der Aufnahmeprüfung mitmachen (mein Eintreten für den Numerus clausus anstatt bisheriger Begabungskriterien wurde als Zynismus missverstanden) sowie ständig Sitzungen besuchen – für DM rund DM 1.250 pro Monat netto.
[Beste Konditionen bislang an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. 7tägiges Seminar über das “Kino vor 1920”, das mit einigen passablen Kenntnissen über die Modernität (und Aggressivität) des Films vor seiner zwangsweisen Kunstwerdung von Interesse gewesen sein mag – Honorar: DM 2.100 + 4 Reisespesen. 4tägiges Seminar über das “amerikanische B-Picture” – Honorar: DM 1.800 + Reisekosten. (Will man sich für ein Seminar wirklich vorbereiten, sind die angegebenen Summen keineswegs so exzellent, wie sie einen Gehaltsempfänger auf ersten Blick erscheinen mögen). Das studentische Desinteresse gefördert durch eine entintellektualisierende Hochschulpolitik im Sinne der Bavaria hat mich veranlasst, solche Verdienstmöglichkeiten nicht weiter zu verfolgen.]
Mein sehr persönliches und differenziertes Verhältnis zu Städten. In Amsterdam bin ich verliebt, für Rom schwärme ich (ohne dort lange leben zu können). Paris missfällt mir, Ankara war unangenehm, Jerusalem faszinierend. Selten blieb mir ein Ort vom ersten Augenblick an so widerlich wie Braunschweig. Ob es nur der Name Braunschwelg war, die Postleitzahl 33 oder jene Einbürgerung von Regierungsrat Hitler, die rechtskonservative Einstellung mit der (neueren) Grenzlandmentalität erinnerte mich zudem an Graz. In einem Chinarestaurant prangte Chiang Kai-shek; ich verliess das Lokal (wie ich aus Wartezimmern gegangen bin, wenn ein Arzt mit Schmissen erschien); die braunschweiger SHfbK zahlte mir für einen 4 Wochenstundenjob DM 342 monatlich, wovon ich selbst für Reise- und Aufenthaltskosten aufzukommen hatte (nicht einmal eine Schlafstätte in der Hochschule hat man mir zur Verfügung gestellt). Dennoch nahm ich die Arbeit auf, weil die Möglichkeit bestand, dass Hartmut B. und Harun F. in anderen Städten ähnliche Positionen, Leiter einer Filmklasse, einnehmen wollten, wir drei also ein Arbeitsprogramm langfristig erstellen hätten können.
Zwei Entwicklungen sollten mir Schwierigkeiten bereiten. Film als grässliche Modeströmung. Der ML Pseudoradikalität in die Provinz getragen. Sowohl in Braunschweig als auch in Hamburg (das damals dank so formidabler Vertreter der Philosophie wie Max Bense und Bazon B. ganz auf “Wissenschaft” machte. Befragte ein Kunsthochschulstudent drei Hausfrauen über ein Thema, das er malen wollte, so wurde dadurch nicht nur der “gesellschaftliche Bezug” hergestellt sondern gleichzeitig auch noch “Statistik” geübt), war die Filmmode eine Belastung insofern, als malen oder zeichnen plötzlich “reaktionär” geworden war, jedermann filmen und fotografieren wollte, Massenkommunikation betreiben etc. Beispielsweise kam ein Student im ungefähr 10. Semester der Malerei zu mir und erklärte, er gebe die Malerei auf, mit ihr könne man nicht die Gesellschaft verändern, deshalb wolle er in die Filmklasse. Ich entschied mich nach vielen Überlegungen zum abriegeln. Nicht um Fachleute im kleinen Kreis auszubilden, was die technische Ausrüstung ohnehin nicht zugelassen hatte, sondern um aus einer vorübergehenden Politmode nicht an SHfbK ein Heer von schlechtausgebildeten und chancenlosen Filmern heranzubilden – die dann ohnehin Kunsterzieher werden würden. Mit SHfbKStudenten halbwegs vernünftig zu reden ist mir ein Alptraum an Anstrengung geworden. Das gezüchtet chaotische Denken, die extreme Disziplinlosigkeit, die Unkenntnisse im Politischen und Faktografischen, der immerwährende Zwang des Individuelles von sich geben sollen, all dies wurde durch partielle Einsicht in die beschissene Berufslaufbahn entweder larmoyant oder hysterisch. Den meisten Kunsthochschulstudenten erging es wie vielen Frauen: eine halbherzige, nicht radikal vorstossende und mit Arbeit verbundene Politisierung (oder Emanzipation) richtet mehr Schaden als Lösungsmomente an, weil der unbewusst-heile Zustand von früher nur den stört wird, aus der ersteinmal Schwächung heraus noch keine essentielle Veränderung möglich wird. Was bleibt sind oft Schmerz + Rückfall nach einiger Zeit.
Unter den “Maoisten” habe ich gelitten, was meine Forderung an Genossen betrifft. Sowohl in Braunschweig als auch wichtiger in Hamburg waren wie zahlenmäßig gering, galten als die Politischsten und waren in einer bestimmten Phase des antilehrerischen Kampfes sehr wichtig. Jedoch sind sie (wie auch jene zu Westberlin) Musterexemplare van genau dem, was sie nu nicht sein wollten, nämlich Künstler – Politik als Fortsetzung der Kunst mit anderen Mitteln. Ihr Irrationalismus artikulierte sich im “Bewusstsein”, anstehende Probleme durch das Abbeten einiger Glaubenssätze (von Marx und Mao über das Proletariat) bewältigen zu können. Ihre Ästhetik kulminierte in dem Vorschlag, ihren 1. Mai Aufmarsch abzufilmen. In meinem Einwand, wozu dies gut sein soll, weil man sich bestenfalls selbst ansehen könne, widerspiegelte sich dann meine “massenfeindliche Haltung”. In einigen Fällen, es muss gesagt werden, waren hochneurotische Verhaltensweisen unverkennbar. Wie überall charakterisierte sich auch an den SHfbK in Braunschweig und Hamburg die ML durch abenteuerliche Ignoranz, einen ausgeprägten Stolz auf (“bürgerliches”) Nichtwissen, und die (für Funktionäre so wesentliche) Angst, überhaupt etwas zu produzieren – weil jedes Produkt hinter dem verbalradikalisierten Anspruch zurückbleiben musste. Dieses Missverhältnis nahm immer stärkere Formen an. So versuchte ich zigdutzendmale wie folgt zu argumentieren: weil Marx und Mao recht haben, missen wir die Gesellschaft auf Seite und im Interesse des Proletariats und der Unterdrückten (nicht “als” Proletarier. Das war wohl mein “Fehler”) zu verändern versuchen, dies im vorliegenden Falle in unserem Berufsbereich. Wenn sie also vorhätten, sozialistische Filmemacher zu werden (wenn nicht, hätten sie von hier zu verschwinden und anderen Platz machen), dann sollten sie doch die Gelegenheit ergreifen, an der vom Staat ausgehaltenen SHfbK zu lernen und nochmals zu lernen; Filme ansehen und analysieren, Theorie und Kinogeschichte begreifen, Projekte in Gruppen durchplanen, koordinieren üben, vor allem das Handwerk erlernen. Und endlich von der Filmwirtschaft etwas verstehen lernen. Doch es war alles umsonst. Meine Argumentation entlarvte mich nicht einmal als Revisionisten, gar als Klassenfeind.
[Voraussetzung: die Käseglocke einer staatlichen HfbK. Hätte diese “Maoisten” je ein Hauch von dem umweht, was sie zu schüren vorgaben, Klassenkampf, wäre ich kaum zur bitteren Entscheidung gelangt, dass Arbeiterschaft und vor allem proletarische Jugend vor solchen Parasiten zu schützen wären.]
Nach einem halben Jahr hatte ich im Mai ’71 von dem Blödsinn die Schnauze voll, mein Honorar war auf DM 412.50 monatlich erhöht worden, ich schmiss den Krempel hin, sehr wohl an mich und meine Interessen denkend. Seitdem melde ich SHfbK, bin über die Lage von Filmklassen nicht informiert. Irgendjemand hat mit zugetragen, dass mein Nachfolger in Braunschweig Gerhard B. vom Dörnberg bei Kassel geworden sein soll: da gehört der auch hin.
52.
Ich: “Immerhin geht’s euch in Rom besser als in München, selbst eine Katze (Misti) könnt ihr euch leisten. Ihr habt noch alle eure Projekte gegen grösste Schwierigkeiten realisieren können. Jeder neue Film von euch wird mit weltweitem Interesse aufgenommen; die erste Monografie in englisch ist erschienen. Es gibt in der Filmgeschichte kaum einen Parallelfall, dass jemand in wenigen Jahren mit ein paar Filmen so weltberühmt und anerkannt geworden ist wie ihr es schon seid.” Jean-Marie St.: “Aber du weisst besser als ich, dass es so etwas wie die Filmgeschichte gar nicht gibt.”
53.
Die Linke geht uneingestanden gerne ins Kino. Es kommen dort viele schöne Sentimentalitäten und Abenteuerismen vor, deren man sich ausserhalb des Dunkelraumes leider schämen müsste. Doch haben diese als Wirklichkeit zu präsentieren, sie dürfen nicht als Gekünsteltes entlarvt werden. Verachtung trifft die Traumfabrik als Fabrikationsstand von Träumen, nicht von planen Naturalismen. Sagt in einem “faschistischen” Bullenfilm der böse Weisse zum braven Farbigen mit vorgehaltener Knarre, er wolle ihm den Arsch bis zu den Eiern aufreissen (zumindest in der westdeutschen Synchronisation), so ist man’s zufrieden – solange nicht das perfekte Make-up von Ava Gardner mitten im Dschungel tapfere Kritik (ein Coiffeur mitten im Urwald ist keine Wirklichkeit nicht) freilässt. Zuerst brauchten die Intellektuellen fast zwei Jahrzehnte, bis sie sich getrauten, über Jerry Lewis zu lachen, jetzo amüsieren sie sich über jede Klamotte und sei diese noch so kümmerlich “anti-intellektuell” wie von Woody Allen. Es ist in der Tat erstaunlich, wie hilflos hochintelligente und argumentierstarke Linksintellektuelle vor der Leinwand werden, wo sie künstlich hergestellte Bilder (von Realem) zusammenfügen müssten, wie aggressiv sie reagieren, wenn die Abbilder nicht sofort Wirklichkeit suggerieren. Eine unerklärliche Denkfaulheit wie eine beklagenswerte “schöpferische Unlust” tritt gerade dann auf, so für kompliziertere Realitäten kompliziertere Widerspiegelungsverfahren erkannt werden müssten. Anspruchsvoll war die linke Studentenschaft im Dunkelsaal noch nie: Filme “wie Kuhle Wampe” will sie sehen (als ob es deren massenhaft gegeben hätte); notfalls tut es auch eine Schweinerei wie Themroc. Ein paar Sprüche gegen Reiche und Bullen, ein bisschen Freiheitsideologie durch ficken nebst ein paar roten Fahnen, für Nachtvorstellungen vor und nach der Kneipe scheint das zu genügen. Noch einmal: was auf der Leinwand geschieht ist keine Wirklichkeit an sich, wiewohl Teile als abgefilmte Realität firmieren. Nicht dass ein Filmwerk realistisch ist, sondern wie, bleibt die Frage.
Merkwort: Für den Faschismus kann man keine guten Filme, Romane etc. realisieren – für die sozialistische Bewegung sehr wohl schlechte Kunstprodukte.
54.
Das Bemühen um ein “dialektisches Verhältnis” von Kontinuität und Wechsel sowie von Allgemeinwissen und Spezialkenntnissen ist ein meine Person mitbestimmendes. Spuren liessen sich auch hier in meine Kindheit zurückverfolgen. Im Spasshaben an meiner Arbeit wurde die Organisierung derselbigen zu einem Nebenvergnügen; ich bin weder Journalist noch Wissenschafter oder Künstler sondern Publizist. Dabei bemühe ich mich um eine notwendige wie angenehme Abfolge von verschiedenen Themen (Wechsel, Spezialwissen) aus einer feststehenden Kette meiner Aussage-Interessen (Kontinuität, Allgemeinkenntnisse). Ich werde mich bemühen, diese Beziehungen nicht nur privat so befriedigend wie möglich hinzukriegen, sondern sie politischen Notwendigkeiten und Anforderungen selbstverständlich zu unterwerfen. Paradoxes Ideal (bei Eisler geäussert) durchaus für mich: etwas abliefern, Bestellung (Arbeiterklasse).
Sozusagen für die Filmbranche zu gescheit und für die Wissenschaft zu blöd. Ich bin in Kino und Fernsehen noch immer verliebt. Aber ich kann diesen Saftladen seit einiger Zeit einfach nicht mehr ganz ernst nehmen.
55.
Frühling ’72 hatte ich von den Wohngemeinschaftsjahren genug; doch für eine 1-Zimmer-Wohnung musste ich Kaution zahlen. Von den laufenden Projekten und Arbeiten gab es noch keine Einkünfte. So wandte ich mich an den HR, schlug Titel, Thesen, Temperamente einen Beitrag über Umschulung (von Dipl.Politologen in Westberlin) vor. Akzeptiert, 3 Wochen Recherchen – es sollte meine erste Realisation für das TV sein. Schon vor Drehbeginn gab es Zores mit dem Kameramann; ich verbat mir jedes Herumgezoome und verlangte Stativ. Er habe die ruhigste Hand im ganzen Sender, war die Replik, ich würde gar nichts merken. Von Naheinstellungen mit draufgeknalltem Licht konnte ich ihn (schon wegen der ungenügenden Ausrüstung) kaum auf ausgeleuchtete Raumeinstellungen bringen (bei TVkameramännern ist alles gleich Totale was nicht ganz Nah ist). Als ich für eine Bewegung um einen Tisch Schienen verlangte, war man direkt konsterniert. Man tat, als ob das TV keine DM 200 mehr investieren könne, wiewohl es andererseits bei beschissenen Unterhaltungssendungen das Geld rauspulvert – nur bei den normalen Magazinsendungen, dem Fernsehalltagsgeschau, muss gespart werden, heisst graue Durchschnittlichkeit und liebloses Machen die Devise. In Frankfurt am Main benahm sich die verantwortliche Redakteurin Dr. Swantje E. (zum Film ein Verhältnis habend wie W. C. Fields zu Hunden & kleinen Kindern) mir gegenüber so beleidigt wie vor 15 Jahren mein Deutschlehrer, als ich meine Schularbeit nicht über Grillparzer sondern über den Hula-Hupp-Reifen ablieferte. Schliesslich ist es üblich, dass die arme Cutterin das Material schon irgendwie auf 12 Minuten zusammenfummelt und der Macher, neben ihr sitzend, schnell seinen Kommentar fabriziert. Nur weil mir diese Art des Filmemachens und der Information ein Greul ist, ich diese nichtssagenden Bilder mit dem hastig heruntergesprochenen Kommentar nicht ausstehen kann, hatte ich meinen Beitrag so konzipiert, dass ein Kommentar überflüssig geworden war, die verschiedenen Ansichten der Protagonisten (Einstellungssequenzen) quasi kontrapunktisch nur noch aneinandergeklebt zu werden brauchten (was die Cutterin berufsschädigend fand). Eine starre 7 Minuteneinstellung von mir war dann das Ende. Nicht dass die Redakteurin auch nur hingehört hätte, was an wichtigem darin gesagt wurde: sie fragte mich, schon unruhig ob des ruhigen Bildes, nach weniger als einer Minute, ob es so weitergehen würde, ich antwortete höflich mit ja, sie befahl der Cutterin, im Schnellgang durchlaufen zu lassen. Dann kam natürlich die Uraltmasche von den Millionen Fernsehzuschauer und der Verantwortung, die man habe: als ob sich die Fernsehfritzen je um das Publikum Sorgen gemacht hätten. Ich konterte, das Publikum sei eben nicht so blöd, wie man immer wieder arrogant im TV (natürlich unausgesprochen) zu glauben meint (und es in schwachsinnigen “Einführungen” zu Spielfilmen direkt beleidigend kundtut), es würde sehr wohl eine ruhige und dezidierte Information mehr schätzen als diese zusammengeschnittenen, pseudoobjektiven Magazinsendungen à la TTT. Jedenfalls verlangte Dr. Swantje E. das ganze “neu und besser” zu machen, was ich ablehnen musste, schon weil ich es nicht “besser” kann. Ein paar Wochen später erreichte mich ein Zahlungs-Avis (“Ausfallhonorar”) auf DM 328! Zwei Jahre später suchte Redakteur Werner D. für die Filmemigrationsserie Coproduktionspartner. Der HR sagte ab. Ich müsse dort wohl einmal was schreckliches angerichtet haben, war sein Eindruck.
56.
Schwer wurde es Mutter gemacht, leicht machte es sich Vater mit meiner Erziehung. Dennoch verdanke ich ihm Entscheidendes: Hass auf den Faschismus und Verachtung für Religion/Irrationalität/Kirche, Begeisterung für Sandbahnrennen (als Kind) und Fussball (noch heute). Bekanntschaft und Hinwendung zum Sozialismus. Heldenverehrung und Trauer sowohl bei Martin Schneeweiss (seinen schweren Verletzungen erlegen, die er beim Sturz mit Gunzenhauser in der Nordkurve der Trabrennbahn erlitten hatte) als auch gegenüber Koloman Wallisch und Karl Münichreiter, beide im Februar ’34 von den Austrofaschisten standrechtlich zu Tode gebracht. Jeden Sonntag ging ich mit Vater zum Kick auf den Sturmplatz (erster “Klassenkampf” in der Schulklasse. Die “Besseren” hielten mit dem GAK, die “Gewöhnlichen” und Roten mit Sturm Graz). Meine Fragen und seine Antworten waren erster Politunterricht; ich verstand meines Vaters Wut auf den Nazismus nicht, wo dieser doch National-Sozialismus heisst. Eines Tages rief uns ein Zeuge Jehovas “Gott wird kommen” zu – da fragte mein Vater verärgert: “Woher wissen sie das, hat er ihnen eine Karte geschrieben?” Ich war von dieser Antwort ausserordentlich beeindruckt, sie stand am Beginn meiner antimetaphysischen Einstellung.
Im 4. Bundesrealgymnasium begann meine atheistische Motzerei den Eltern Sorge zu machen. Während des Religionsunterrichtes erprobte ich mich in allen Spitzfindigkeiten des es-kann-keinen-Gott-geben [Im übrigen war ich mit 3 Jahren getauft worden: die erzkatholischen wie antinazistischen Bauern, bei denen Mutter mit mir während des Krieges umquartiert war, baten mich taufen lassen zu können, sozusagen als Dankesschuld. Denn die Rote Armee war im Anmarsch und sollte mir etwas passieren, käme ich nicht in den Himmel. Meine Eltem willigten “in Gottes Namen” ein.]
Mit der Zeit entwickelte sich mein Kirchen- und Religionshass selbst für mich bedenklich, so ich damit Hauptübel und Alleinschuldigsein für alles auf der Welt verband. Traf ich Pfaffengesindel und Betschwestern auf der Strasse, deren en in Graz nicht wenige gibt, wurde mir zum ausspucken.
Auf Tramp befreite ich mich durch die Erkenntnis, ein zweifelsohne gewichtiges nichtsdestotrotz epiphänomenes Kapitalzentrum strapaziert zu haben. Gegenwartsgeschichte oder Fragen der Gewichtung in der Feindbeurteilung. Als Arbeit wurde mir mit dem Marxistsein Religion und Kirche bald schnurzegal.
Ende der 60er Jahre musste ich mit einigen kaputten Typen, der Kifferei ergeben, filmemacherish zusammenarbeiten. Und plötzlich erkannte ich verschiedene Irrationalismen wieder; ich spürte besorgt Schlimmeres (tatsächlich soll Jesusglaube viele vom Kiffen “gerettet” haben), ahne und fürchte (machtlos) neuerlich eine Welle von Irrationalismus, Glaubenssehnsucht und Flucht aus dem Alltag (diesmal in asiatisches Primborium verpackt). Eine Sache, die für mich (und meine Generation) wie selbstverständlich gelöst war, ein Thema, nicht einmal intellektuell noch von Interesse; die Religion ist bei Teilen der heutigen Jugend wieder aktuell, gar erfolgreich geworden. Es könnte mir also passieren, ein 20jähriges hübsches Mädchen zu treffen, das an den lieben Gott glaubt. Ich erwähne dies so ausführlich, weil es mir zum erstenmal passiert ist, eine (zumindest tendenziell) für überwunden aufgefasste Negativität bei anderen, einer jüngeren Generation, wieder entdecken zu müssen. Es muss sich jeder künftig gegen solche Schläge wider den allgemeinen Fortschritt stabilisieren.
57.
Es war einmal, da standen beim WDR die Chancen nicht schlecht für eine Serie “Freuden des Alltags”. Musik für Hartmut B., Mode für Harun F., für mich Essen und Trinken: ein Küchenchef, dessen Spezialaufgabe darin besteht, jedes neueröffnete Haus einer Internationalen Hotelkette in Kürze auf Vordermann zu bringen, ist mit einer aussergewöhnlich intelligenten, schönen und sinnenvergnügten Frau verheiratet, die allerdings bei Essen und Trinken nichts empfinden kann. Folgend unternimmt der Chefkoch ein paar Abenteuerlichkeiten, um Madame Fressgenüsse beizubringen. Er bedient sich dabei eines Verleihunternehmens (dramaturgisches Stellwerk aller Teilfilme), das nicht nur Gegenstände und Menschen, auch Gefühle und bei Aufpreis selbst “echte Gefühle” vermietet. Wir wollten ein paar Dinge über den Stellenwert von Genuss, Luxus, Vergnügen in verschiedenen Gesellschaftsklassen filmessaiistisch aufbringen und verstanden dies – ich auch heute noch – am wirksamsten in einer Serie mit einem spannenden Aufhänger. Der bei Abt. Fernsehspiel des WDR für dieses Projekt zuständige Dramaturg Joachim von M. kannte uns von der DFFB her, er tat von unseren Vorstellungen, Diskussionen, Arbeiten sehr angetan (damals jedenfalls).
Dann kam der grosse Tag, die entscheidende Aussprache mit dem Abteilungschef. Ingrid O. and Ursula L. begleiteten ihre Männer zum Flughafen Tempelhof, ich hatte mir die Schuhe geputzt: es ging immerhin um unser Debut, 2-3 Jahre Arbeit und endlich welche Kohlen. Doch Dr. Günter R. gefiel die ganze Idee überhaupt nicht, ihm war das alles zu wenig “realistisch”. Was er darunter verstand, erklärte sein Einwand, dass es ein solches Verleihunternehmen in Wirklichkeit gar nicht gäbe1 Hartmut B. und ich waren sprachlos, fühlten uns wie die Maus vor der Schlange. Harun anti-chambrierte los und gab jeder Kritik des Dr. Günter R. so eilig nach, dass dieser sich der zynischen Anmerkung nicht enthalten konnte, mit soviel Opportunismus würde er es bei ihm nicht weit bringen. Joachim von M. brachte jetzo nicht ein Wort zur Verteidigung unseres Projekts heraus. Auch das merkte der Boss; offensichtlich nicht ohne Vergnügen denunzierte er seinen Dramaturgen in unserer Gegenwart als jämmerlichen Feigling. Damit fand die Tragikomödie noch kein Ende: als wir uns von dem Schock der Ablehnung in einer Pizzeria etwas zu erholen begannen, gewann euch “unser” Dramaturg an Mut, gar zu Hause wieder fand er unsere Arbeit ausgezeichnet...
Die Diskussion um ein Fernsehspielprojekt hatte ich mir damals (Anfang ’71) freilich anders vorgestellt. Das Exposé brachte mir DM 1.500 ein – bis dato mein einziges Fernsehspielhonorar.
58.
Apropos zitieren. Weniger die Inflation des Zitats ist zu beklagen denn die abstrakte, theologisch begriffene und dematerialisierte Art des Zitierens. Eine Leninsche Ansicht ist beinahe nichtssagend bzw. irreführend, solange für den Leser nicht hervorgeht, unter welchen Konditionen wann und wo diese geäussert worden ist: beispielsweise vor oder nach 1905, während der Revolution oder später. Zwar bleibt eine Parole “Nieder mit dem Klassenfeind” stets richtig, die massgeblichen Konsequenzen lassen sich erst aus dem Zeit- und Ortsbestand erörtern – 1930 oder 1940 in Deutschland ausgesprochen! Und wenn über sozialistische Filmarbeit in der BRD diskutiert wird, möge man sich weniger auf Lenin berufen, sofern man ihm nicht unterstelle will, für unsere Gegenwartsverhältnisse genauso zu urteilen wie für die Kinematografie der USSR kurz nach Beendigung des Bürgerkrieges.
- 1Julian Volz, “Prolegomena. Straschek 1963 – 74 Westberlin (Filmkritik 212, August 1974)”, Sabzian (2022).
Dieser Text wurde ursprünglich als "Straschek 1963-74 Westberlin" in Filmkritik Bd. 8, Nr. 212 (August 1974) erschienen und wird in den kommenden Monaten in 4 Teilen auf Sabzian publiziert werden.
Die belgische CINEMATEK und das Goethe-Institut Brüssel werden Günter Peter Straschek im Juni 2022 eine Retrospektive sowie eine Ausstellung widmen.
Dieses Projekt wurde mit Unterstützung des Goethe-Instituts Brüssel realisiert.
Mit Dank an Karin Rausch, Julian Volz und Julia Friedrich und das Museum Ludwig Köln für die Bereitstellung der englischen Übersetzung.
Bild (1): Am Set von Labriola (Günter Peter Straschek, 1970). Foto: Michael Biron.
Bild (2): Hurra für Frau E. (Günter Peter Straschek, 1967)
Bild (3): Günter Peter Straschek im Es stirbt allerdings ein jeder, fragt sich nur wie und wie Du gelebt hast (Holger Meins) (Renate Sami, 1975)
Bild (4): Gitta Alpar im Filmemigration aus Nazideutschland (Günter Peter Straschek, 1975)
Bild (5): Labriola (Günter Peter Straschek, 1970). Foto: Michael Biron.